Dornröschenschlaf für Blutstammzellen - warum Vitamin A ihr Aufwachen verhindern muss

Forschungsbericht (importiert) 2019 - Max-Planck-Institut für Immunbiologie und Epigenetik

Autoren
Schönberger, Katharina; Obier, Nadine; Pavlovich, Polina; Cabezas-Wallscheid, Nina
Abteilungen
Forschungsgruppe "Mechanismen hämatopoetischer Stammzelldormanz"
Zusammenfassung
Blutstammzellen sind wichtig für die lebenslange Produktion von Blutzellen. Unsere Forschung hat gezeigt, dass bestimmte molekulare Signale, beispielsweise Vitamin A, die Stammzellen in einem schlafähnlichen Ruhezustand halten, um sie vor Verschleiß zu schützen und langfristig ihr Potenzial zur Blutbildung zu bewahren. Als Reaktion auf Stress, wie Blutverlust oder Infektionen, werden ruhende Stammzellen aktiviert, um schnell das Blutsystem zu regenerieren. Wir erforschen die für den Ruhezustand verantwortlichen Mechanismen, um neue Therapien für Erkrankungen des Blutsystems zu entwickeln.

Blutstammzellen: seltene Zellen im Knochenmark

Unser Blut betreibt täglich Höchstleistungen: Krankheiten müssen abgewehrt, kranke Zellen eliminiert, Blutungen gestoppt und Organe mit Nährstoffen versorgt werden. In einem erwachsenen Menschen fließen rund 300 Billionen Blutzellen. Gleichzeitig gehen jede Sekunde über 2 Millionen Blutzellen zugrunde, pro Tag sind das mehrere Milliarden. Wie kann das Blutsystem dann noch voll funktionsfähig bleiben? Die Blutbildung wird durch die sogenannte Hämatopoese sichergestellt, ein Prozess, der im roten Knochenmark stattfindet. Zentrale Akteure sind dabei die Blutstammzellen, auch hämatopoetische Stammzellen (HSZ) genannt. Diese stellen eine äußerst seltene Zellpopulation dar.

Seit einiger Zeit ist bekannt, dass die Stammzellpopulation im Knochenmark der Maus aus zwei getrennten Populationen besteht: ruhende HSZ (rHSZ), die sich nur fünf Mal innerhalb eines Lebens teilen, und aktive HSZ (aHSZ), die sich etwa einmal pro Monat teilen. Die aHSZ Population und die aus ihr hervorgehenden Vorläuferzellen sind essentiell für den überwiegenden Teil des langfristigen Selbsterneuerungspotenzials. Unter normalen Bedingungen stellen sie sicher, dass die exakte Anzahl aller Blutzelltypen gebildet wird. Die rHSZ hingegen teilen sich unter diesen Bedingungen nicht: sie bilden ein stilles Reservoir. Während ihrer Ruhephase verbrauchen sie nur sehr wenig Energie. Ein solcher Zustand geringer Biosyntheseaktivität bewahrt die Funktion der HSZ und schützt sie vor Veränderungen im Erbgut. Allerdings können rHSZ bei Stresssituationen wie Entzündungen, Infektionen und Blutverlust oder auch während einer Chemotherapie aktiviert werden. Die so aus ihrem Dornröschenschlaf gerissenen Zellen werden jetzt als aHSZ bezeichnet und beginnen mit der Zellteilung und Differenzierung, um neue Blutzellen zu produzieren oder beschädigtes Gewebe zu reparieren (Abb. 1).

Zellintrinsische Signalwege führen zum Dornröschenschlaf ruhender Stammzellen

Werden die HSZ jedoch zu häufig aktiviert, kann dies zu Schäden in ihrer DNA führen und Ursache für Leukämie sein. Die entarteten HSZ werden als Krebsstammzellen bezeichnet. Eine solche Entartung ist fatal, da ruhende Zellen resistent gegen Chemotherapeutika sind und somit nicht mit herkömmlichen Methoden bekämpft werden können. Damit rHSZ so viel Schlaf wie möglich bekommen, nicht entarten und so ihre wertvollen Funktionen erhalten, sorgen zellintrinsische Signalwege sowie lösliche Komponenten des Knochenmarks dafür, dass die HSZ unter Normalbedingungen in ihrem Ruhezustand gehalten werden oder nach einer Stresssituation wieder in diesen zurückkehren können. Im Gegensatz zu den Faktoren, die das Ende des Ruhezustands hervorrufen, ist bisher sehr wenig über die Mechanismen bekannt, die HSZ in ihrem Dornröschenschlaf halten. Ziel unserer Forschung ist es deshalb, genau jene Mechanismen besser zu verstehen.

Vitamin A hilft bei der Aufrechterhaltung des Ruhezustands

Eine Hürde stellen dabei die geringen Zellzahlen dar, mit denen wir unsere Experimente durchführen müssen. In einem Organismus finden sich nur wenige tausend HSZ, was für unsere Studien eine Herausforderung bedeutet. Mit der Etablierung sensitiver Messmethoden konnten wir eine umfangreiche Analyse von HSZ und verschiedenen, bereits weiter differenzierten Vorläuferpopulationen durchführen. Dies hat uns erste Hinweise auf potenzielle molekulare Schlüsselfaktoren der HSZ-Selbsterneuerung gegeben. Durch die Kombination genomweiter DNA-Methylom-, Transkriptom- und Proteom-Untersuchungen konnten wir hierbei spezielle Gruppen aktiver Gene, lange, nicht-kodierende RNAs und den Vitamin-A-Metabolismus als spezifische HSZ-Charakteristika identifizieren [1]. Darüber hinaus beobachteten wir, dass bestimmte Ernährungsgewohnheiten das Gleichgewicht zwischen HSZ-Erhalt und -Differenzierung beeinflussen können. Vitamin A wird ausschließlich über die Nahrung aufgenommen und aufgrund dieser ersten Hinweise untersuchten wir dessen Rolle bei der Aufrechterhaltung des Ruhezustands der Stammzellen. Wir fanden, dass die in vitro-Kultivierung von HSZ in Retinsäure-haltigem Medium, dem aktiven Metaboliten des Vitamin A, die stressinduzierte Aktivierung von rHSZ verhindert. Weiterhin konnten wir zeigen, dass eine Vitamin-A-freie Diät bei Mäusen die Fähigkeit der HSZ beeinträchtigt, nach einer Aktivierung in den Ruhezustand zurückzukehren und so letztendlich zu einem Verlust von HSZ führt [2]. Vitamin A scheint demzufolge ein essentieller Faktor für den Dornröschenschlaf der hämatopoietischen Stammzellen zu sein.

Vitamin-A-Mangel betrifft derzeit vor allem Kleinkinder in Entwicklungsländern und führt zu Blindheit und einem geschwächten Immunsystem. Die Konsequenz ist, dass Infektionskrankheiten, die unter normalen Bedingungen einen unauffälligen Verlauf zeigen, zum Todesrisiko für betroffene Kinder werden können. Diese Schwächung des Immunsystems ist oft irreversibel, selbst bei einer Vitamin-A-Gabe erholen sich nur 20% der Kinder. Die Ursache hierfür ist unbekannt. Unsere Forschungsergebnisse im Maussystem deuten darauf hin, dass dies möglicherweise durch einen Stammzellverlust verursacht werden könnte.

Welche Rolle spielt die Ernährung?

Unsere Ergebnisse ebnen den Weg zur Beantwortung bisher ungelöster Fragen: Wie genau reguliert Vitamin A den Dornröschenschlaf der HSZ? Können wir den Ruhezustand unserer Stammzellen durch Veränderungen unserer Essgewohnheiten modulieren [3]? Und spielt der Vitamin-A-Gehalt im Blut möglicherweise auch eine Rolle für Krebsstammzellen? Zukünftig wollen wir die Auswirkungen verschiedener Ernährungsgewohnheiten auf den Aktivitätszustand von HSZ tiefgehender untersuchen und die zugrundeliegenden molekularen Regulierungsmechanismen verstehen. Unser oberstes Ziel ist es dabei, diese Erkenntnisse im Kontext der Bekämpfung menschlicher Krankheiten nutzbar zu machen.

Literaturhinweise

1.
Cabezas-Wallscheid, N.; Klimmeck, D.; Hansson, J.; Lipka, D. B.; Reyes, A.; Wang, Q.; Weichenhan, D.; Lier, A.; von Paleske, L.; Renders, S.; Wünsche, P.; Zeisberger, P.; Brocks, D.; Gu, L.; Herrmann, C.; Haas, S.; Essers, M. A.; Brors, B.; Eils, R.; Huber, W.; Milsom, M. D.; Plass, C.; Krijgsveld, J.; Trumpp, A.
Identification of regulatory networks in HSCs and their immediate progeny via integrated proteome, transcriptome, and DNA methylome analysis
Cell Stem Cell 15, 507-522 (2014)
2.
Cabezas-Wallscheid, N.; Buettner, F.; Sommerkamp, P.; Klimmeck, D.; Ladel, L.; Thalheimer, F. B.; Pastor-Flores, D.; Roma, L. P.; Renders, S.; Zeisberger, P.; Przybylla, A.; Schönberger, K.; Scognamiglio, R.; Altamura, S.; Florian, M. C.; Fawaz, M.; Vonficht, D.; Tesio, M.; Collier, P.; Pavlinik, D.; Geiger, H.; Schroeder, T.; Benes, V.; Dick, T. B.; Rieger, M. A.; Stegle, O.; Trumpp, A.
Vitamin A/ retinoic acid signaling regulates hematopoietic stem cell dormancy
Cell 169, 1-17 (2017)
3.
Schönberger, K.; Cabezas-Wallscheid, N.
Vitamin C: C-ing a new way to fight leukemia
Cell Stem Cell 21, 561-563 (2017)
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