Ein Gel für die Dosiskompensation

Das einzelne X-Chromosom männlicher Fruchtfliegen kann dank eines Molekülklebers genauso aktiv sein wie die zwei X-Chromosomen weiblicher Tiere

18. November 2020

Fruchtfliegenmännchen besitzen nur ein X-Chromosom anstatt zwei wie ihre weiblichen Artgenossinnen. Deshalb muss ihr X-Chromosom doppelt so aktiv sein, um dieselbe „Gendosis“ zu erzielen. Wenn das nicht gelingt, sterben die Tiere. Forscher:innen vom Max-Planck-Institut für Immunbiologie und Epigenetik in Freiburg haben nun entdeckt wie der für diese sogenannte Dosiskompensation verantwortliche MSL-Komplex in der Lage ist, das X-Chromosom von den anderen Autosomen zu unterscheiden. Mit einem spektakulären Forschungsansatz gelang es dem Team um Asifa Akhtar Mini-Fliegen-Chromosomen in der Maus zu erzeugen und dabei die unbedingt notwendigen, molekularen Bestandteile zur Erkennung des X-Chromosoms zu identifizieren. Die nun im Fachjournal Nature publizierte Studie zeigt, dass mit dem MSL2-Protein und der vom X-Chromosom synthetisierten roX-RNA zwei Komponenten notwendig sind, die zusammengenommen eine Art Gel bilden, um den MSL-Komplex für die Dosiskompensation spezifisch an das X-Chromosom zu binden.

Frauen haben zwei Kopien des X-Chromosoms mit über 1.000 Genen. Männer haben hingegen nur eine Kopie und besitzen stattdessen ein genarmes Y-Chromosom. Dieses Chromosomen-Ungleichgewicht findet sich auch bei vielen weiteren Arten im Tierreich. Jedoch ist es überlebenswichtig, diese Unterschiede „auszugleichen“. Während beispielsweise beim Menschen und bei der Maus die Weibchen eines ihrer X-Chromosomen einfach abschalten, übernimmt bei der Fruchtfliege Drosophila das Männchen die Arbeit. Ein epigenetischer Faktor, der als MSL-Komplex bezeichnet wird, bindet an das einzelne männliche X-Chromosom und nutzt seine Histonacetylierungsfunktion, um das X-Chromosom zu hyperaktivieren. Damit versucht es das gleiche RNA-Produktionsniveau zu erreichen wie die beiden X-Chromosomen, die von den Weibchen getragen werden. Wenn dieser Prozess fehlschlägt, sterben die männlichen Fliegen. 

„Es hat die Forschung immer verblüfft, woher der MSL-Komplex weiß, welches der acht Fliegenchromosomen das X-Chromosom ist,“ erklärt Asifa Akhtar, Direktorin am MPI für Immunbiologie und Epigenetik in Freiburg. Diese Frage motivierte ihr Team eine neuartige und ausgeklügelte Strategie zu entwerfen, um zu untersuchen, wie der MSL-Komplex das X-Chromosom identifizieren kann. Anstatt den MSL-Komplex direkt in der Fliege zu untersuchen, beschlossen die Forscher:innen, den Komplex in eine völlig fremde Umgebung zu transplantieren: in eine Maus. 

Miniatur-Fliegen-X-Chromosom in der Maus

Teil des ungewöhnlichen Forschungsansatzes war es, zu den Grundlagen zurückzukehren und den Erkennungsmechanismus für Fliegenchromosomen Komponente für Komponente in der Maus nachzubauen. Das Team begann damit ein einzelnes Protein aus dem MSL-Komplex der Fliege, MSL2, in Mäusen zu exprimieren. Zu diesem Zeitpunkt konnten sie noch nicht entdecken, dass etwas geschah. Aber auf Grundlage früherer Studien an Fliegen stellten sie die Hypothese auf, dass weitere Komponenten des MSL-Komplexes erforderlich sein könnten: die nicht-kodierenden RNA-Moleküle roX1 und roX2. Nachdem sie Mauszellen mit MSL2 und roX2-RNA der Fliege ausgestattet hatten, beobachteten die Forscher nun deutlich durch roX2 markierte Bereiche des Zellkerns sowie genau an den Stellen, an denen MSL2 und roX2 involviert sind, eine Steigerung der Genaktivität. 

Die spezifische Beschaffenheit der Bereiche und deren Potenzial Gene zu aktivieren, erinnert stark an Areale auf dem X-Chromosom, die durch den MSL-Komplex in der männlichen Fliege markiert werden. Faszinierenderweise deuten diese Experimente darauf hin, dass das Hinzufügen von MSL2 und roX2 in Mauszellen ausreichend zu sein scheint, um ein Miniatur-Fliegen-X-Chromosom in Mauszellen nachzubilden. Dieser innovative Ansatz beleuchtete damit die minimalen molekularen Komponenten, die für die ersten Schritte bei der Erkennung und Aktivierung des Fliegen-X-Chromosoms durch den MSL-Komplex erforderlich sind. 

Ein molekularer Kleber ermöglicht die Identifikation des X-Chromosoms 

Nachdem das Team nun das genaue Rezept zur Bildung eines Mini-Fliegen-X-Chromosoms herausgefunden hatte, mischten sie die beiden Komponenten, roX-RNA und MSL2, im Reagenzglas, um mehr über den molekularen Mechanismus zu erfahren. „Als wir MSL2 und die roX-RNA vermengten, fiel uns etwas Interessantes auf. Beide Komponenten – obwohl sie isoliert flüssig waren – begannen kugelförmige Partikel zu bilden und gingen in eine andere Form über, die wie ein Gel aussah,“ sagt Claudia Keller-Valsecchi, Co-Erstautorin der Studie. Interessant ist, dass beide RNA-Moleküle, roX1 und roX2, von Genen kodiert werden, die sich auf dem X-Chromosom befinden und dass dieser Ort im Genom als Bindungsplattform für den Zusammenbau des MSL-Komplexes verwendet wird. 

Das Team vermutete nun, dass vom X-Chromosom synthetisierte roX-RNA in der Nähe befindliche MSL2-Moleküle aufgrund ihres gemeinsamen Interaktionspotentials und ihre Neigung sich in einen gelartigen Zustand zu verwandeln „einfängt“. „Die Menge an vorhandener roX-RNA ist ein guter Indikator dafür, wie gut der MSL-Komplex das X-Chromosom finden kann. Als wir die Menge der roX-RNAs in unseren Experimenten variierten, zeigt sich je mehr roX von dem X-Chromosom synthetisiert wurde, desto besser war der MSL-Komplex in der Lage, das X-Chromosom von den Autosomen zu unterscheiden,“ erläutert die Co-Erstautorin Felicia Basilicata.

Mit ihren Forschungsergebnissen haben die Freiburger Wissenschaftler:innen nun einen neuen Mechanismus aufgedeckt, der von männlichen Fliegen zur Unterscheidung und Markierung des einzelnen X-Chromosoms verwendet wird und auf dem Zusammenbau eines roX-MSL2-Gels aus zwei Komponenten beruht. Männliche Fliegen, die dieses Gel nicht zusammensetzen können, sterben. „Es ist auch denkbar, dass der Gelzustand dazu beitragen könnte, weitere wichtige Komponenten für die Dosiskompensation anzuziehen und einzufangen, wie z.B. die Transkriptionsmaschinerie, die für eine erhöhte RNA-Produktion erforderlich ist,“ erläutert Asifa Akhtar zukünftige Forschungsfragen, die es noch zu bearbeiten gilt.


MS/MR

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