Warum brauchen wir Tierversuche?
Drosophilaforschung am MPI-IE | Mausforschung am MPI-IE | Zebrafischforschung am MPI-IE
Die Biologie des menschlichen Körpers ist hochkomplex. Verschiedene Organe, Zelltypen, Signal- und Hormonsysteme sind dabei in unendlich vielen Feedbackschleifen miteinander verbunden. Die Funktionen dieser verschiedenen Strukturen und deren Zusammenspiel verstehen wir noch nicht und so stecken wir in vielen Bereichen noch heute in den Kinderschuhen. Zwar lassen sich einzelne Prozesse eines lebenden Organismus tatsächlich isoliert untersuchen. Aber nur an einem lebenden Organismus können die spezifischen Interaktionen zwischen den Organen, Zellen und Zellbestandteilen studiert werden. Eine Immunreaktion beispielsweise mit ihren vielen Komponenten, Zellen und löslichen Bestandteilen, die durch den Körper wandern und die miteinander zeitlich und räumlich versetzt interagieren, lässt sich nicht in einem in-vitro Versuch an Zellkulturen nachbilden.
Der Komplexität biologischer Systeme wie des Immunsystems, unseres Stoffwechsels oder der epigenetischen Regulation der Gene kann man sich zwar, je nach Fragestellung, in vielen kleinen Teilschritten nähern. Auch tierversuchsfreie Methoden wie Lab-on-a-Chip-Techniken, Organoide (das sind aus Zellkulturen erzeugte Strukturen, die einzelne Funktionen von Organen nachahmen) oder Computermodelle können dabei wichtige Erkenntnisse hervorbringen. Jedoch gelangt jedes Forschungsvorhaben ab einem bestimmten Punkt zu der Frage, wie die Abläufe im lebenden Organismus tatsächlich aussehen – und wie sie reagieren, wenn man einen bestimmten Teil von ihnen zu modulieren versucht. Hier wird die Arbeit mit Labortieren unerläßlich, um belastbare Einsichten über das komplexe Zusammenwirken von genetischen und biochemischen Vorgängen im gesunden wie kranken Körper zu gewinnen. Oft führt auch erst die vergleichende Untersuchung bei verschiedenen Tierarten zu neuen Einsichten. Deshalb ist die Grundlagenforschung auf Tierversuche angewiesen.
Erkenntnisse aus unserer Forschung mit Tieren
Forschungsprojekte mit der Fruchtfliege Drosophila
Dosiskompensation
Frauen haben zwei Kopien des X-Chromosoms mit über 1.000 Genen. Männer besitzen hingegen nur eine Kopie und stattdessen ein genarmes Y-Chromosom. Dieses Chromosomen-Ungleichgewicht findet sich auch bei vielen weiteren Arten im Tierreich. Es ist jedoch überlebenswichtig, diese Unterschiede „auszugleichen“, um dieselbe „Gendosis“ bei beiden Geschlechtern zu erzielen. Beim Mensch und bei der Maus schalten die Weibchen eines ihrer X-Chromosomen einfach ab. Bei der Fruchtfliege Drosophila übernimmt das Männchen die Arbeit. Ein epigenetischer Faktor, der als MSL-Komplex bezeichnet wird, bindet an das einzelne männliche X-Chromosom und hyperaktiviert es.
Erkenntnisse zu diesen Prozessen und den beteiligten Molekülen helfen nicht nur die Mechanismen der Dosiskompensation in Fliege, Maus und Mensch zu verstehen, sondern tragen auch erheblich zum besseren Verständnis der Genregulation allgemein bei. Studien aus der Grundlagenforschung des Instituts waren so zum Beispiel zentral für die Entschlüsselung der molekularbiologischen Ursache für eine seltene Erkrankung, bei der betroffene Kinder unter starken Entwicklungsverzögerungen leiden.
Epigenetische Vererbung
Wir sind mehr als die Summe unserer Gene. Epigenetische Mechanismen, die durch Umwelteinflüsse wie Ernährung, Krankheit oder unseren Lebensstil verändert werden, nehmen eine wichtige Rolle bei der Steuerung unseres Erbguts ein, indem sie Gene ein- oder ausschalten. Lange Zeit war fraglich, ob diese epigenetischen Informationen, die sich über das ganze Leben hinweg in unseren Zellen ansammeln, die Grenze der Generationen überschreiten und an Kinder oder sogar Enkel weitervererbt werden können. Forscher:innen des MPI konnten mithilfe von Drosophila zeigen, dass nicht nur die vererbte DNA selbst, sondern auch vererbte epigenetische Instruktionen zur Regulierung der Genexpression der Nachkommen beitragen.
Eine epigenetische Modifikation namens H3K27me3 wird so nicht nur durch die mütterliche Keimbahn auf den Nachwuchs übertragen, sondern steuert auch einen fein abgestimmten Mechanismus, der für die Genomaktivierung während der frühen Embryogenese der Fliege erforderlich ist.
Übergewicht und Fliegen
Wissenschaftler:innen am MPI konnten zeigen, dass Fruchtfliegen Änderungen ihres Stoffwechsels vom Vater auf den Sohn vererben. Ein zuckerreiches Festmahl vor der Paarung kann so für eine Fruchtfliege und ihren Nachwuchs Folgen haben: Die Fliegenkinder werden dann nämlich anfälliger für Übergewicht. Die Ernährung der Väter aktiviert Gene, die das Erbgut epigenetisch verändern können. Diese Veränderungen werden vererbt und steuern in der nächsten Generation die Aktivität von Genen für den Fettstoffwechsel.
Die Forscher:innen haben darüber hinaus ein ähnliches Gen-Netzwerk auch bei Menschen und Mäusen gefunden, das die Anfälligkeit für Übergewicht erhöht. Dazu wurden Daten von Untersuchungen an Pima-Indianern – einem Stamm nordamerikanischer Ureinwohner, deren Angehörige häufig unter Übergewicht leiden – sowie eineiigen Zwillingen ausgewertet. Demnach besitzen übergewichtige Menschen dieselbe Gen-Signatur wie die Fruchtfliegen. Die Anfälligkeit für ein hohes Körpergewicht steigt also auch beim Menschen, wenn bestimmte Gene epigenetisch verändert werden.
Forschungsprojekte mit Mäusen am Institut
Schwarmverhalten von Zellen der angeborenen Immunantwort
Mithilfe des Modellorganismus Maus untersuchen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an unserem Institut die Funktionsweise des angeborenen Immunsystems. Dieses ist als erste Verteidigungslinie mit einem effektiven Arsenal an zellulären Waffen zur Stelle, wenn etwa Bakterien in den Körper eindringen und diesen schädigen.
Mit speziellen bildgebenden Verfahren aber auch genetischen Untersuchungen an Mäusen konnten neue Erkenntnisse darüber gewonnen werden, wie verschiedene Immunzellen ihr Verhalten am Ort einer Entzündung aufeinander abstimmen. Die Forschenden entschlüsselten die Signale, die dazu führen, dass Fresszellen sich zu großen Schwärmen zusammenschließen, um Erreger im infizierten Gewebe gemeinsam zu attackieren.
Schicksal von Blutstammzellen
Am Institut erforschen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die molekularen und funktionellen Eigenschaften von Blutstammzellen, sogenannter hämatopoetischer Stammzellen (HSZ). Durch die Kombination von verschiedenen molekularbiologischen Analysemethoden wie Metabolomik und Epigenomik mit funktionellen In-vivo- und In-vitro-Ansätzen wollen die Forschenden verstehen, welche Mechansimen und Signalstoffe die Entwicklung der Stammzellen und anderer Vorläuferzellen steuern. Die Studien, die bei den Signalstoffen zum Beispiel Vitamin-A-Stoffwechselprodukte in den Blick nehmen, können helfen, die Behandlung von Blutkrankheiten und Leukämien in der Zukunft zu verbessern.
Ein besonderer Schwerpunkt liegt auf dem einzigartigen Potenzial von Blutstammzellen, den Körper lebenslang mit frischen Blutzellen zu versorgen. „Diese außergewöhnliche Fähigkeit der hämatopoetischen Stammzellen wird dadurch geschützt, dass einige von ihnen in einen sehr tiefen Ruhezustand versetzt werden, wenn sie nicht gebraucht werden. Wir wollen die regulatorischen Netzwerke verstehen, die an der Aufrechterhaltung dieses Ruhezustands beteiligt sind“, sagt Nina Cabezas-Wallscheid. Da Störungen dieses Mechanismus zu Erkrankungen des Blutsystems führen können, trägt die Forschung aus Freiburg auch dazu bei, Grundlagen für neue Therapieansätze bei Bluterkrankungen zu entwickeln.
Epigenetisches Übergewicht
Epigenetiker und Epigenetikerinnen des Instituts erforschen die molekularen Grundlagen der Regulation der Gene. Mit einem besseren Verständnis, wie und unter welchen Bedingungen Gene aktiviert werden oder nicht, lassen sich in Zukunft nicht nur neue Ansatzpunkte für Medikamente entwickeln, sondern möglicherweise auch Therapien realisieren, die individuelle genetische und epigenetische Gegebenheiten von Patienten berücksichtigen können.
Forscherinnen und Forscher des Instituts haben genetisch veränderte Mäuse untersucht, die nur eine Kopie des Gens Trim28 besitzen. Obwohl die Tiere genetisch identisch sind, schwankt ihr Körpergewicht enorm: Sie sind entweder normalgewichtig oder leiden an Übergewicht, Zwischenstufen gibt es nicht. Verantwortlich für diese ungewöhnliche Gewichtsverteilung ist ein Netzwerk aus Genen, dessen Aktivität epigenetisch gesteuert wird. Da epigenetische Prozesse sensibel auf Umweltreize reagieren, wollen die Wissenschaftler deshalb herausfinden, ob eine Umstellung der Ernährung, Stressminimierung oder auch Medikamente den Gen-Schalter entsprechend beeinflussen und dauerhaft von über- auf normalgewichtig umstellen können.
Zebrafisch-Forschung an unserem Institut
Fehlfunktion von Blutstammzellen bei Krebs
Studien unseres Instituts erforschen mithilfe des Zebrafischs die hämatopoetischen Stammzellen und andere Vorläufer unserer Blutzellen, um Störungen der Blutbildung beim Menschen besser zu verstehen. Eine Forschungsgruppe konnte so die Rolle des Transkriptionsfaktors HLX bei Leukämie näher bestimmen. HLX funktioniert wie ein molekularer Lichtschalter, der Gene an- und ausschalten kann, und ist bei Patient:innen mit akuter myeloischer Leukämie (AML) oft überaktiviert. In sich ergänzenden Experimenten im Zebrafisch und menschlichen Zelllinien fanden die Forscher:innen heraus, dass ein überaktivierter HLX-Schalter vor allem Stoffwechsel-Gene in den Zellen beeinflusst, die zu Fehlsteuerungen und zur Blockade während der Zelldifferenzierung führen.
So liefern die Studienergebnisse auch Hinweise für zukünftige Therapieansätze. Denn die von dem Transkriptionsfaktor regulierten Stoffwechselwege können medikamentös beeinflusst werden. In Zellkultur gelang es experimentell die Überlebensrate der entarteten Krebszellen deutlich zu reduzieren.
Bauprinzipien der erworbenen Immunität
Forscherinnen und Forscher des MPI-IE nutzen den Zebrafisch als Modellorganismus bei der Erforschung der genetischen Grundlagen des Immunsystems. Mit einem vergleichenden Ansatz analysieren sie Gene, Zelltypen und lymphoide Organe verschiedener Spezies, um die Konstruktionsprinzipien der adaptiven Immunität zu identifizieren, die allen Wirbeltieren gemeinsam sind.
Das schließt neben dem Zebrafisch auch Lanzettfischchen, Neunaugen, Mäuse und natürlich den Menschen ein. Im Rahmen dieser Studien entstanden unter anderem eindrucksvolle Echtzeitaufnahmen der T-Zellentwicklung in lebenden Zebrafischembryos: angefangen von der Bildung der Thymus-Anlage über die Einwanderung der Zellen aus dem Knochenmark bis hin zu dem Stadium, an dem die fertigen T-Zellen aus dem Thymus entlassen wurden.
Insgesamt soll mithilfe des Zebrafischs sowie weiteren Spezies die genetische Grundlage der Thymopoese, also die Reifung und Entwicklung von T-Zellen, in Wirbeltieren untersucht werden. Denn durch ein besseres Verständnis evolutionärer Entwicklungsschritte der genetischen Netzwerke, die die Entwicklung und Funktion des Immunsystems regulieren, lassen sich die Konstruktionsprinzipien des Immunsystems der Wirbeltiere aufklären. Die Forschung hilft Störungen der Immunantwort besser zu verstehen.